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Texte zu Kunst und Philosophie
ISSN 1437-3777

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Andreas Woyke: Überlegungen zu Nietzsches Wissenschaftskritik.

»In einer Welt des Werdens, in der alles bedingt ist, kann eine Annahme des Unbedingten, der Substanz, des Seins, eines Dings usw. nur ein Irrthum sein. Aber wie ist Irrthum möglich?«(1)

I. Schwierigkeiten der Nietzsche-Rezeption

Friedrich Nietzsche ist eine der zentralen Figuren für jene Etappe der abendländischen Geistesgeschichte, die man die dritte Aufklärung nennen könnte.(2) Nietzsche unternimmt den großangelegten Versuch einer Destruktion der traditionellen Werte des Abendlandes in all ihren metaphysischen, religiösen und moralischen Erscheinungsformen und diagnostiziert den Heraufzug eines nihilistischen Zeitalters. Der Nihilismus ist für ihn dabei eine notwendige Folge aus der Zerschlagung und dem Niedergang aller vermeintlich höheren Werte – wie Gott, Moral und die Unsterblichkeit der Seele –, aber er ist für ihn kein Ziel, sondern nur ein Durchgangsstadium hin zu einer autonomen Sinnfindung und Sinnbegründung in der Immanenz:

»Ich will sagen, dass die Welt übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber vielleicht ist diess der stärkste Zauber des Lebens: golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!«(3)

Neben das destruktive Moment in Nietzsches Philosophie tritt insofern ein explizit konstruktives, das m. E. in vielen Interpretationen seiner Philosophie nicht genügend Berücksichtigung findet.(4) Nietzsches Abneigung gegen die systematische Form und die strenge Argumentation der philosophischen Tradition und seine Vorlieben für den Aphorismus und sprachliche Eloquenz führten dazu, dass viele akademische Philosophen ihn nicht als originären Denker, sondern allenfalls als philosophierenden Dichter verstanden. Sein geistiger Zusammenbruch im Jahre 1889 hatte die fatale Übernahme all seiner Belange und damit auch seines Werks durch seine nationalistisch gesinnte Schwester zur Folge. Der kritische Denker wurde so zum Nationalheiligen erklärt und seine Gedanken wurden unendlich verbogen, verflacht und verfälscht, so dass sie plötzlich für Dinge in Anspruch genommen werden konnten, gegen die Nietzsche in wachen Tagen unablässig gekämpft hatte.(5) Auf diesem ungesunden Boden konnte dann nach Nietzsches Tod auch jener unselige Missbrauch gedeihen, den die Nationalsozialisten mit seiner Person und seinem Werk trieben. Bis heute leidet unser Nietzsche-Bild unter dieser schrecklichen Diskreditierung. Albert Camus schreibt hierzu:

»In der Geschichte des Geistes hat Nietzsches Abenteuer, Marx ausgenommen, nichts Gleichwertiges; die Ungerechtigkeit, die ihm angetan wurde, werden wir nie gutmachen können.«(6)

Die Rezeption seiner erkenntnistheoretischen Aussagen, die sich zum größeren Teil in seinen Nachlasstexten finden, wurde dadurch erschwert oder gar unmöglich gemacht, dass Nietzsches Schwester die nachgelassenen Fragmente ihres Bruders in gänzlich unseriöser Weise zu einer Kompilation zusammenstellte und diese unter dem Titel Der Wille zur Macht als sein Hauptwerk herausgab. Erst durch die textkritische Ausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari liegen uns die Nachlasstexte in einer zuverlässigen, vollständigen und kommentierten Fassung vor.

II. Nietzsche und die philosophische Tradition

Ein Stück mehr Seriosität in die Beschäftigung mit Nietzsches Philosophie kann dadurch gebracht werden, dass man ihn ein wenig von dem Nimbus des einsamen Genies löst und versucht, ihn in die philosophische Tradition einzuordnen. Bei einer solchen Einordnung denkt man zuerst daran, dass Nietzsches philosophisches Damaskuserlebnis die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung war. Insbesondere seine frühe Philosophie – vor allem sein Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872 – steht stark unter dem Einfluss der Schopenhauerschen Metaphysik. Über den transzendental-idealistischen Teil der Schopenhauerschen Philosophie wirkt aber auch die Kantische Erkenntnistheorie auf Nietzsche ein. Obwohl er in Folge kein ausgiebigeres Kant-Studium mehr betrieb, kann seine Philosophie daher durchaus als eine Fortsetzung und Radikalisierung der Vernunftkritik Kants verstanden werden. Schließlich schöpft Nietzsche aus seiner intensiven Kenntnis der Texte der antiken Philosophie, besondere Bedeutung erlangen dabei für ihn Platon – nicht nur als Gegner – und Heraklit.

III. Destruktive und konstruktive Motive im Denken Nietzsches

Nietzsche gebraucht die Mittel der rationalen Argumentation und Kritik nicht nur als Mittel zur Destruktion von Metaphysik, Moral und Religion, er richtet sie auch gegen die begrifflichen Fundamente von Wissenschaftlichkeit und Vernünftigkeit insgesamt. Die Zerschlagung der Vorstellung von einem wie auch immer gearteten Sein und die Absage an die Möglichkeit von verbindlicher Wahrheit führen ihn in seiner späten Philosophie wieder zu den Grundannahmen seines Frühwerks von der Bedeutung der Kunst und der »Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen« zurück.(7) Diese Annahmen, die sich vor allem in Die Geburt der Tragödie finden, treten in den Werken der mittleren Periode zwar zugunsten des kritisch-polemischen Aspekts von Nietzsches Denken zurück, bleiben aber auch in diesen aufgehoben. Es gibt in seinem Werk insofern ein beständiges Changieren zwischen dem harten, überkommene Werte zerstörenden Gebrauch der Vernunft und einer affirmativen Hinwendung zu einer ästhetischen Rechtfertigung des Lebens und der Welt jenseits aller Wissenschaft und aller Fragen nach Wahrheit. Die Einsicht in diese Aufeinanderbezogenheit von Destruktion und Konstruktion, von Rationalität und Ästhetik ist wesentlich für das Verständnis der im Folgenden zu erläuternden Kritik Nietzsches an der Wissenschaft, dem Positivismus, der Vorstellung von einem beharrenden Sein und der Annahme einer Möglichkeit von wahrer Erkenntnis. Anhand einer Darstellung dieser Kritik werden sich anschließend entscheidende Aussagen zum Verhältnis seiner Philosophie zu den modernen Naturwissenschaften und zum Bestreben nach einer ausgewogenen Deutung von Naturphänomenen und der Natur als ganzer ergeben.

IV. Zentrale Elemente von Nietzsches Wissenschaftskritik

Während die Kantische Vernunftkritik wesentlich von der Intention getragen ist, den Wissenschaften ein positives philosophisches Fundament zu geben, so gelangt Nietzsche zum Schluss, dass jede Erkenntniskritik sich selbst dadurch ad absurdum führt, dass der einzige Maßstab, an dem sie den Erkenntnisapparat messen kann, eben dieser zu prüfende Erkenntnisapparat selbst ist:

»Man müßte wissen, [...] was Gewißheit ist, was Erkenntniß ist und dergleichen. – Da wir das aber nicht wissen, so ist eine Kritik des Erkenntnißvermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selber kritisiren können, wenn es eben nur sich zur Kritik gebrauchen kann?«(8)

Diese Einsicht führt ihn zur Absage an die Möglichkeit absolut wahrer Erkenntnis und damit auch zur Forderung nach einer Relativierung all der Kategorien, mit Hilfe derer so genannte wahre Erkenntnis bisher fundiert wurde.

Kritik am Substanzbegriff

Zentral wird für Nietzsche hierbei die Kritik an der Annahme eines beharrenden Seins, die für ihn aller Wissenschaft und Logik zugrunde liegt.(9) Es sind nicht nur Raum und Zeit, die wir als Anschauungsformen der Wirklichkeit aufnötigen, und unser Hang zur Quantifizierung, die uns grundsätzlich von einer möglichen Wesenserkenntnis der Welt entfernen, sondern auch diese Grundannahme von einer Substanz, die aller Veränderung ein Moment der Dauerhaftigkeit entgegensetzen soll. Ein solches alle Veränderung fundierendes Seiendes existiert für ihn aber nicht, alles erscheint ihm als aufgelöst in Chaos und Werden:

»Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen.«(10)

Deshalb muss notwendigerweise auch allen naturwissenschaftlichen Annahmen von einem beharrenden Seienden – etwa im Sinne der Atome, chemischen Elemente oder Elementarteilchen – eine klare und eindeutige Absage bezüglich ihres Anspruchs auf objektive Erkenntnis erteilt werden:

»Es gibt nichts Unveränderliches in der Chemie, das ist nur Schein, ein bloßes Schulvorurtheil.«(11)

Das einzig Gegebene ist insofern das Werden, welches die vermeintlich einzig reale Welt seiender Dinge in ihrem illusionären Charakter entlarvt, wenn man es als das einzig wirklich Reale anerkennt.(12) Nur die Tölpel behaupten, dass alles stille steht und die Brücken und Geländer sich dauerhaft der Macht des heranströmenden Flusses widersetzen, der Philosoph weiß, dass alles fließt und unablässiger Verwandlung und Zersetzung unterliegt.(13) Der substantialistische Materiebegriff, wie er uns noch in Kants Grundsatz von der Beharrlichkeit der Substanz und im transzendental-idealistischen Teil der Schopenhauerschen Metaphysik begegnet, verliert bei Nietzsche insofern gänzlich seine Verbindlichkeit und wird wie Raum, Zeit und Kausalität zu einer bloßen »Erkenntnismetapher, mit denen wir die Dinge uns deuten«(14)

Kritik am Kausaldenken

Deutlich kritikwürdig ist für Nietzsche daher auch die Verbindung der Vorstellung von einer beharrlichen Substanz mit einer unangemessenen Verabsolutierung der Kausalbeziehung in Form allgemein gültiger und unwandelbarer Naturgesetze. Diese sind für ihn nur Worte des Aberglaubens(15) und schlechte Philologie, welche die Interpretation mit dem Text verwechselt.(16) Die Beziehung einer bestimmten Wirkung auf eine bestimmte Ursache bedeutet für Nietzsche nicht, dass dadurch Wesensaussagen über die Wirklichkeit und somit Wahrheit im eigentlichen Sinne möglich wären, jede Anwendung des Kausalitätsprinzips entspringt nur unserem Wunsch, die Welt zu vermenschlichen:(17)

»Daraus, daß Etwas regelmäßig erfolgt, ergiebt sich nicht, daß es nothwendig erfolgt.«(18)

Unsere Vorstellung von der Nezessität, die zwischen Ursache und Wirkung bestehen soll, ergibt sich nicht aus einer neutralen, unvoreingenommenen Betrachtung der Naturphänomene, sondern aus einer Hineinprojizierung unserer subjektiven Erfahrung, das wir unter Zwang mit einem bestimmten Verhalten reagieren. Der Glaube an Ursachen und Wirkungen, die sich als scheinbar isolierte Elemente gegenüberstehen, ist für Nietzsche ebenso wie die Vorstellung von einer beharrlichen Substanz, welche das Zugrundeliegende für alle Veränderung bildet, ein Versuch des Menschen in der Dynamik der Werdewelt statische Hilfen zu installieren, an denen sich seine Sinne und sein beschränkter Verstand orientieren und so zu einer vermeintlich wahren Erkenntnis über die Welt gelangen können.(19)

Kritik an Logik und Mathematik

Auf der Voraussetzung der Gültigkeit des Kausalgesetzes und der Vorstellung von einem beharrlichen Sein, aus dem sich durch die Ausstattung mit Akzidentien die Mannigfaltigkeit der Dingwelt konstituiert, gründet für Nietzsche insbesondere auch die Logik, die der Werdewelt eine Ordnung aufprägen und aufzwingen will, die nicht in ihr ist:

»Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulierbar, berechenbar zu machen.«(20)

Ebenso wenig wie sich die Wahrheit einer Erkenntnis – im Sinne ihrer Übereinstimmung mit den Dingen – durch den Rückgriff auf andere Erkenntnisse und die Struktur unseres Erkenntnisapparates beweisen lässt, kann die absolute Gültigkeit des logischen Schließens dadurch legitimiert werden, dass man einen Rekurs zu den sogenannten logischen Grundgesetzen – wie insbesondere dem Satz vom Widerspruch(21) – macht. Auch die Mathematik, die mit der Gültigkeit der Logik operiert, muss daher jenen Status vom Erkenntnisideal verlieren, den sie für die gesamte philosophische Tradition von Pythagoras und Platon bis hin zu Kant hatte.(22) Alle mathematischen Formeln, die der Physiker und der Chemiker uns als Erklärungen für das Naturgeschehen präsentieren, bezeichnen und etikettieren dieses nur gemäß dem Hang des Menschen, Ordnung in eine chaotische Welt zu bringen, ein Verständnis der Natur, ein Begreifen, was die Naturprozesse wirklich sind, liefern sie nicht.

»Die Berechenbarkeit der Welt, die Ausdrückbarkeit alles Geschehens in Formeln – ist das wirklich ein ›Begreifen‹? Was wäre wohl an einer Musik begriffen, wenn alles, was an ihr berechenbar ist und in Formeln abgekürzt werden kann, berechnet wäre?«(23)

Ein adäquates Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt ist ein widerspruchsvolles Unding

Die Naturwissenschaften, für welche die Berechenbarkeit der Welt ein Verstehen der Welt ermöglichen soll, bauen letztlich immer noch auf der alten Vorstellung von der Gegebenheit einer Korrespondenz zwischen den Dingen und dem menschlichen Denken auf.(24) Die kopernikanische Wende Kants erteilt zwar der lange Zeit bestehenden Auffassung, wonach Wahrheit durch einen bloßen Abbildungsvorgang der Dinge im menschlichen Geist konstituiert wird, eine klare Absage, sie führt allerdings keineswegs zu einer grundsätzlichen Absage an die Möglichkeit von Naturerkenntnis überhaupt. Kants klassische Formulierung, wonach sich nicht der Verstand nach den Dingen, sondern die Dinge nach dem Verstand richten, bedeutet nicht, dass alle Naturerkenntnisse illusionär wird, sie bedeutet vielmehr eine Verlagerung des Wahrheitsgrundes von der Sinnlichkeit zu den Grundsätzen des reinen Verstandes.(25) Bei Nietzsche, der z. T. ganz ähnliche Formulierungen benutzt,(26) geht es dagegen um eine Destruktion der traditionellen Wahrheitsvorstellung und damit auch um einen handfesten Einwand gegen das naturwissenschaftliche Weltbild, das auf dem Glauben gründet, die Wirklichkeit wirklich verstehen zu können.(27) Die Möglichkeit eines adäquaten Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt ist für Nietzsche generell »ein widerspruchsvolles Unding.«(28) Das erkennende Subjekt und das zu erkennende Objekt gehören – wenn sie überhaupt so isoliert und voneinander getrennt existieren(29) – zwei völlig verschiedenen Sphären an und können daher nie zu einem kausalen oder logischen Verhältnis finden, sondern allenfalls zu einer Art von ästhetischer Kommunikation, die dem Subjekt dabei hilft, sich besser in der Welt einzurichten und Macht über die Natur auszuüben.

V. Der chaotische Charakter der Realität und das Streben nach Wahrheit

Das einzig Gewisse an der Welt ist für Nietzsche ihre Irrtümlichkeit und die Aufgelöstheit alles vermeintlichen Seins in ein unablässiges Werden, ein Zerstören und Neugestalten.(30) Doch dieser Gewissheit setzten die Menschen seit jeher das entgegen, was sie »Wahrheit« nannten: Gott, die Sittlichkeit, Zweckmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Weltordnung, die Annahme einer beharrlichen Substanz, die aller Veränderung zugrunde liegt etc. Die Wahrheit wurde auf diese Weise zum Schein, der Schein zur Wahrheit. Der menschliche Intellekt bedarf des Seienden, das Werdende kann sich ihm im Sinne der Erkenntnis nicht erschließen.(31) Die Lüge wird so zur Erhaltungsbedingung des menschlichen Lebens, zur allgemeinen Verhaltensweise zu dem, was als Welt begegnet:(32)

»Also ist Leben nur vermöge eines solchen Fälschungs-Apparates möglich. Denken ist ein fälschendes Umgestalten [...].«(33)

Gerade das Einebnen des Individuellen und die Zusammenfassung des Nichtgleichen zu einem Gleichen in einem Allgemeinen in Form von Begriffen, denen eigentlich nichts in der werdenden Wirklichkeit entspricht, ist für den Menschen ein wichtiges Mittel seiner Welterschließung. In seiner Sprache stellt der Mensch neben die chaotische Werdewelt, die sein Verlangen nach Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Sinn nicht befriedigt, eine zweite Welt, die im Laufe seiner Geschichte immer mehr zur eigentlichen, zur wahren Welt wurde. In der Wissenschaft setzt sich in systematischer Weise diese bereits in der Sprache angelegte Tendenz zur Umdeutung, Ordnung und Bemächtigung der Welt fort. Es geht nicht um Erkenntnis, sondern um Schematisierung, es gilt »dem Chaos so viel Regularität und Formen auf[zu]erlegen, als es unserem praktischen Bedürfniß genug thut.«(34)

VI. Plädoyer für eine perspektivistische Epistemologie

Das, was für die Wissenschaften wahre Erkenntnis über die Welt ist, ist für Nietzsche nur eine bestimmte Perspektive auf die Wirklichkeit, die im wesentlichen durch das Verlangen nach Macht geleitet ist.(35) Die wissenschaftliche Weltbetrachtung ist getragen vom »Begreiflich-machenwollen« vom »Praktisch-, Nützlich-, Ausbeutbar-machen-wollen«, sie ist insofern gänzlich »anti-aesthetisch«. So neigt sie dazu, ihren perspektivischen Charakter zu vergessen, sich selbst zu verabsolutieren und dadurch andere Wirklichkeitsperspektiven zu verwerfen und zu diskreditieren:(36)

»Soweit überhaupt das Wort ›Erkenntniß‹ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne ›Perspektivismus‹. Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.«(37)

Neben der wissenschaftlichen Perspektive gibt es andere Perspektiven – die der Kunst, die der Moral, die der Religionen und der Philosophien –, diese sind von anderen Bedürfnissen, von anderen Wertschätzungen bestimmt und geleitet. Es geht Nietzsche eigentlich nicht darum, einen absoluten Erkenntnisnihilismus zu verkünden und alles in vollständiger Relativität aufzulösen – obwohl auch dieser Aspekt bei ihm durchaus angelegt ist –, sondern darum, seinen Erkenntnisskeptizismus dazu zu gebrauchen, jeden Absolutheitsanspruch(38) einer Wahrheit dezidiert zurückzuweisen. Auf die Frage nach dem Weg lässt Nietzsche seinen Zarathustra daher antworten:

»Den Weg nämlich – den giebt es nicht!«(39)

Als eine Folgerung aus seiner These von der Perspektivität aller Erkenntnis leitet er seine Forderung nach einer multiperspektivischen Herangehensweise an die Welt ab: Je mehr Blickweisen und Blickwinkel wir finden, einnehmen und praktizieren bei unserer Betrachtung der Dinge, desto näher werden wir den Dingen kommen und um so eher werden wir ein Recht haben, von so etwas wie Objektivität in unserem Verhältnis zu den Dingen zu sprechen:(40)

»Wenn wir allmählich die Gegensätze zu allen unseren Fundamentalmeinungen formuliren, nähern wir uns der Wahrheit.«(41)

VII. Wahrheit und Artisten-Metaphysik

Wesentliche Ergänzung findet Nietzsches Forderung nach Multiperspektivität durch seinen Gedanken von der Präferenz der Wertfrage vor der Wahrheitsfrage. Die Wahrheit im klassischen Verständnis ist für Nietzsche keine sinnvolle Fragestellung mehr, der Wille zur Wahrheit um jeden Preis ist für ihn Ausdruck schlechten Geschmacks:(42)

»Die Frage der Werthe ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Werthfrage beantwortet ist.«(43)

Die Antworten, die er auf die Wertfrage gibt, sind keineswegs beliebig, sie orientieren sich vielmehr an einigen zentralen Wertschätzungen, die er – trotz mancher Verschiebungen in den Verhältnissen zueinander – von seiner Frühphilosophie bis zu seinen letzten wachen Tagen beibehält. Die erste dieser Wertschätzungen tritt uns besonders deutlich in Nietzsches Erstlingswerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik entgegen. Sie besteht in der Bedeutung, die er der Kunst und einer ästhetischen Rechtfertigung des Lebens und der Welt beimisst. Wissenschaft und Logik stoßen notwendig an Grenzen, hinter denen sich bodenlose Abgründe auftun, die Kunst ist das einzige Mittel, das uns davor schützen und bewahren kann, in die Abgründe hinabzustürzen, die sich dieser tragischen Erkenntnis öffnen:(44)

»Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine.«(45)

Neben der Kunst erlangt auch Nietzsches Beschäftigung mit den antiken Dichtern und Denkern eine wesentliche Bedeutung für ihn. Die antike Lebens- und Welteinstellung ist für ihn vor allem dadurch bestimmt, dass für sie die tragische Erkenntnis um die schrecklichen und entsetzlichen Seiten des menschlichen Daseins nicht zu Verdüsterung und Weltverneinung führt – wie später bei den Christen –, sondern in eine Steigerung der Kosmophilie, der Liebe zur Welt und das große Ja-Sagen zum Leben umgewendet wird:

»Heiden sind Alle, die zum Leben Ja sagen, denen ›Gott‹ das Wort für das grosse Ja zu allen Dingen ist.«(46)

Aus diesem großen Ja zur Welt und zum Leben speisen sich alle lichtvollen und affirmativen Stellen bei Nietzsche – insbesondere in Also sprach Zarathustra, Die fröhliche Wissenschaft und den späten Dionysos-Dithyramben. Dieses große Ja zum Leben ist für Nietzsche auch der entscheidende Wertmaßstab, den er gegen die Verabsolutierung der Wissenschaft und der unkritischen Rationalität, die sich letztlich notwendig gegen das Leben richten muss,(47) ins Felde führt. Im Rahmen seiner Wertschätzung einer Artisten-Metaphysik(48) und seiner affirmativen Haltung zum Leben und zur Welt besitzen auch die Aspekte des Stils und des Pathos der Distanz eine große Bedeutung.(49) Dieses Stilgefühl lässt ihn neben der Kunst auch die Philosophie mit ihrem Stammvater Platon, gegen den er sonst eher polemisiert, über die positivistische Wissenschaft stellen, die »den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich« hat und somit leicht »ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack« bezaubern kann:

»Es war eine andere Art Genuss in dieser Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der ›kleinstmöglichen Kraft‹ und der größtmöglichen Dummheit.«(50)

Die für Nietzsche richtige und dem Leben förderliche Rangfolge zwischen den Weltperspektiven wurde durch die großen und leicht beweisbaren Erfolge der empirischen Wissenschaften, die den einfachen sensualistischen Wahrheitsvorstellungen Genüge tun, zu Ungunsten der Philosophie, der Kunst und der Liebe zum Leben verschoben.(51) Es ist ihm ein großes Anliegen, dieser fatalen Rangverschiebung entgegen zuwirken und so die negativen Folgen, die sich aus ihr ergeben und ergeben können, zurückzuweisen.(52) Wesentlich ist dabei für ihn seine – bereits erwähnte – Forderung nach Multiperspektivität, die ihm »eine Forderung der Gesundheit« ist.(53) Nur durch eine Ergänzung und einen Ausgleich der Wirklichkeitsperspektiven, durch Wissenschaft, Philosophie und Kunst, kann eine Zukunft der Wissenschaft gewährleistet und eine höhere Kultur der Menschheit ermöglicht werden.

VIII. Nietzsches Wissenschaftskritik im Blick auf die Gegenwart

Eine Fülle an ganz unterschiedlichen Problemen in der modernen Welt ließe sich bewältigen oder zumindest wesentlich relativieren, wenn wir der Forderung Nietzsches nachkommen würden, die Beschränktheit aller partikularen Perspektiven zu bedenken und die Bedeutung einer Synopse verschiedener Perspektiven der Weltdeutung und Lebensorientierung zu erkennen. Viele Menschen in den westlichen Industrienationen sind – zumindest intuitiv – mit den negativen Folgen der Verabsolutierung eines naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes vertraut, doch diese Vertrautheit führte bisher kaum zu einem effektiven Nachdenken über diese Folgen oder gar zu einer Polemik gegen diese Verabsolutierung, die nicht nur destruktiv ist, sondern mit konstruktiven Gegenentwürfen aufwarten kann. En vogue ist vielmehr der Rückzug zu Irrationalismen und reiner Wissenschaftsfeindlichkeit, die nicht zu Problemlösungen beitragen können und nur die Fraktion der Rationalisten und Technokraten stärken. Die Naturwissenschaftler hängen immer noch – mehr oder weniger stark – der Überzeugung an, dass die Ergebnisse, die sie bei ihrer Beschäftigung mit Naturphänomenen gewinnen, wahre Erkenntnisse über die Natur als ganze zu Tage fördern. Ein stärkeres Bedenken davon, dass wir im Sinne Nietzsches wie Spinnen sind, die in ihren Netzen sitzen und in diesen Netzen eben nur das fangen können, was sich in diesen Netzen fangen lässt, findet kaum statt.(54) Ob das in diesen Netzen Gefangene wirklich geeignet ist, Erkenntnis oder gar Wesenserkenntnis über das zu vermitteln, was außerhalb unserer Netze ist, können wir, die wir als Spinnen selbst die Gefangenen unserer Netze sind, letztlich nicht in einem absoluten Sinne entscheiden:

»Aber alle unsere Relationen, mögen sie noch so exakt sein, sind Beschreibungen des Menschen, nicht der Welt: sind die Gesetze dieser höchsten Optik, von der uns keine Möglichkeit weiter führt. Es ist nicht Schein, nicht Täuschung, sondern eine Chiffreschrift, in der eine unbekannte Sache sich ausdrückt, – für uns ganz deutlich, für uns gemacht, unsere menschliche Stellung zu den Dingen. Damit sind uns die Dinge verborgen.«(55)

IX. Sprachphilosophische Überlegungen

Einer der zentralen Gegenstände der Gegenwartsphilosophie ist die Sprache und deren Verhältnis zu Erkenntnis und Wahrheit. Dieses insbesondere von Ludwig Wittgenstein zum neuen Paradigma der Philosophie erhobene Themenfeld wurde aber bereits von Nietzsche erschlossen. Vor allem in seinem frühen Text Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne macht er deutlich, dass all unser An- und Aussprechen von vermeintlichen Wahrheiten in und durch die Sprache, all unser Benennen und Bilden von Begriffen, metaphorisch ist und der Metamorphose der Welt in den Menschen«(56) dient. Zu Wahrheiten werden diese Metaphern und Anthropomorphismen für den Menschen erst, wenn er ihren ursprünglichen Charakter vergisst und sie zu einem Wahren und Gewissen erklärt. Gerade die modernen Naturwissenschaften neigen dazu, die Sprachabhängigkeit und Relativität all ihrer Erkenntnisse zu vergessen und die so gewonnenen Wahrheiten zu ontologisieren. Zwei Eigentümlichkeiten des menschlichen Sprechens und Denkens, die für Wissenschaft und Philosophie bis heute von entscheidender Bedeutung sind, nämlich die Kategorien der Substanz und der Kausalität, fordern – wie ausgeführt – Nietzsches Kritik in besonderem Maße heraus. Diese beiden Kategorien stehen für ihn zum einen in keiner Weise in einem Korrespondenzverhältnis zur Natur in ihrem An-sich-Sein, sind aber zum anderen dem Menschen als einem nach Erkenntnis über die Natur strebenden Wesen als Denknotwendigkeiten mitgegeben. Vereinfacht lassen sich die Thesen Nietzsches hierzu wie folgt zusammenfassen: Die Welt ist Chaos und Werden, es gibt kein Sein(57), doch der Mensch bedarf der Annahme eines Seienden, um sich in der Welt einrichten zu können und die für sein Überleben nötige Bemächtigung der Natur einzuleiten und voranzutreiben.(58) Eng verbunden mit diesen Thesen sind – wie ausgeführt – die Absage an die Annahme einer beharrlichen Substanz und die Bestreitung einer kausalen Ordnung des Naturgeschehens.

X. Bezüge zu modernen naturwissenschaftlichen Theorien?

Von der Kritik Nietzsches an den Kategorien der Substanz und der Kausalität lassen sich – interessanterweise – Parallelen zu zentralen Erkenntnissen der Quantenphysik und der statistischen Thermodynamik ziehen. Die Kategorie der Substanz wird hierbei aufgelöst und jenseits des sinnlich Stofflichen auf Energie- und Symmetriegrößen zurückgeführt, die Kausalität im einfachen mechanistisch-deterministischen Sinne wird durch das Primat der Wahrscheinlichkeit ersetzt. Allerdings sollte man diese naturwissenschaftsinternen Verabschiedungen der Substanz- und Kausalitäts-Kategorie nicht zu stark mit Nietzsches Wissenschafts- und Erkenntniskritik parallelisieren(59), da dadurch zum einen die philosophischen Thesen an Radikalität verlieren und zum anderen diese Verabschiedungen auch innerhalb der Naturwissenschaften keineswegs so unproblematisch, eindeutig vollzogen und vollziehbar sind, wie es zunächst erscheinen mag. Die Bedeutung des Wahrscheinlichkeitsdenkens in der Quantenmechanik und statistischen Thermodynamik, sowie die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, die zu dem Ergebnis gelangt, dass es keine subjekt-unabhängigen Kausalketten gibt, verdrängten zwar für einige Zeit den Kausalitätsbegriff aus der Physik, aber die Erkenntnis, dass auch eine probabilistische Verknüpfung von Ursache und Wirkung immer noch ein Denken in Kausalkategorien voraussetzt, führte ihn bald – wenngleich in modifizierter Form – wieder ein.(60) Bezüglich der Auflösung der Substanz-Kategorie in Energie- und Symmetriegrößen bzw. in ein Geflecht von Relationen solcher Größen muss gesagt werden, dass sie zwar auf den reichlich abstrakten Ebenen der theoretischen Physik und Chemie vollzogen wurde, aber für den experimentell arbeitenden Naturwissenschaftler nach wie vor unverzichtbar ist. Gerade in der Chemie ist es m. E. ohne einen reflektierten Umgang mit der Substanz-Kategorie nicht möglich, einen Sinn und ein Gespür für die phänomenale Fülle der behandelten Vorgänge zu bekommen.

XI. Unterschiedliche Perspektiven auf Naturphänomene und das Bemühen um ein ausgewogenes Weltverständnis

In den Naturwissenschaften geht es i. d. R. nicht darum, Naturphänomene in ihrer konkreten Erscheinung zu beschreiben, es geht vielmehr darum, sie im Rückgriff auf möglichst allgemeine Konzepte zu erklären. Der chaotisch-prozessuale Charakter der Realität, den Nietzsche in seiner Philosophie und seiner Kritik an den Wissenschaften in den Vordergrund gerückt, soll durch die Zurückführung auf ein materiell oder strukturell Beharrendes gefasst und mit Hilfe unterschiedlich komplexer mathematischer Formalisierungen kontrolliert werden. In der Chemie zeigt sich dies – noch recht dicht an den konkreten Phänomenen – durch die Zurückführung von chemischen Reaktionen wie etwa der Verbrennung verschiedener Stoffe auf die zugrunde liegenden Atome bzw. chemischen Elemente. Für Nietzsche ist demgegenüber die gesamte Welt als werdende Welt zu begreifen, innerhalb derer es kein Sein und insofern auch keine beharrenden Grundstoffe oder Grundqualitäten geben kann:

»Auch die chemischen Qualitäten fließen und ändern sich [...].«(61)

Aus der Sicht Nietzsches enthüllen naturwissenschaftliche Erklärungen in keiner Weise wesenhafte Züge der Realität; sie erklären eigentlich gar nichts in verbindlicher Weise, sie sind nur der Ausdruck eines Erklären-Wollens und Erklärbar-Machens:

»›Wille zur Wahrheit‹ heisst ihrs, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will’s euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild.«(62)

Nietzsches Kritik an den Wissenschaften trifft sicher auch heute noch wichtige Punkte, sie verwickelt sich aber auch selbst in diverse Schwierigkeiten: Zuerst gilt es auf den Widerspruch hinzuweisen, der zwischen seiner vollständiger Destruktion eines verbindlichen Wahrheitsbegriffs und der Explikation eigener Wahrheiten wie der Wahrheit von der werdenden Welt besteht. Nietzsches Einsicht in die Aporie, in die er durch diesen Widerspruch notwendig geraten muss, findet letzten und deutlichen Ausdruck in seinen Dionysos-Dithyramben, insbesondere in dem Gedicht Nur Narr! Nur Dichter!.(63)

Die Auflösung alles Seienden in Werden widerspricht weiterhin seiner Abneigung gegen die Verabsolutierung einer Wahrheit, einer Perspektive. Warum müssen naturwissenschaftliche Perspektiven prinzipiell als unzureichend abgewiesen werden und durch die philosophische Perspektive von der chaotischen Weltordnung ersetzt werden, hinsichtlich derer alles Seiende und alles Substantielle als bloßer Schein gelten muss? Praktischer Erfolg und Nützlichkeit sind sicherlich keine verbindlichen Wahrheitskriterien, aber sie belegen doch in beeindruckender Weise die Legitimität naturwissenschaftlicher Erklärungen.(64) Die klischeehafte Gegenüberstellung der Philosophien von Heraklit und Parmenides im Sinn eines Dualismus zwischen reinem Werden und reinem Sein ist völlig untauglich für eine wissenschaftliche Erklärung wie eine philosophische Deutung von Naturphänomenen. Beginnend mit Demokrit versuchen alle an der Naturerkenntnis interessierten Philosophen ein tertium comparationis für die Vermittlung zwischen diesen beiden Extrempositionen zu finden.(65) Auch bei Nietzsche findet sich – neben seiner Verabsolutierung des Werdens – eine Antwort auf die Frage nach einem derartigen Dritten, nämlich in Form seines Hinweises darauf, dass alles Erkennen und folglich auch alles Aussprechen von Wahrheiten perspektivisch gebunden und insofern beschränkt ist. Als Gedanke einer experimentellen Philosophie, die das Denkbare austestet, hat Nietzsches These vom absoluten Werden, das sich unserer Erkenntnis und Sinneswahrnehmung verschließt, allerdings durchaus ihren besonderen Reiz. Im Bezug auf einen Vortrag des Zoologen Karl Ernst von Baer (1792-1876) mit dem Titel Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige? aus dem Jahre 1860 spekuliert Nietzsche in seinen Vorlesungen über die Vorsokratiker darüber, ob unsere Wahrnehmung und Vorstellung beharrlicher Dinge nur die letztlich kontingente Folge davon sein könnte, dass wir als Menschen im Unterschied zu vielen schnelllebigeren Tieren über ein relativ niedriges »Grundmaß der Zeit« verfügen:(66)

»Das Bleiben [...] ergiebt sich als eine vollkommene Täuschung, als Resultat unserer [beschränkten] menschlichen Intelligenz; könnten wir noch viel schneller percipiren, so würden wir die Täuschung des Bleibens noch viel stärker haben: dächte man sich die unendlich schnellste aber durchaus menschliche Perception, so hört jede Bewegung auf, alles wäre ewig fest. Dächte man sich dagegen die menschliche Perception unendlich gesteigert [...], so wäre umgekehrt auch nicht im unendlich kleinsten Zeittheil ein Beharrendes zu entdecken, sondern nur ein Werden.«(67)

Entgegen dieser spekulativen Überlegungen sollte schließlich aber auch bedacht werden, dass Nietzsches Plädoyer für Werden und Chaos wohl weniger im Sinne einer ernsthaften theoretischen Weltdeutung, sondern viel eher im Sinne der Akzentuierung einer praktischen Lebensorientierung zu verstehen ist, die sich um eine affirmative Einbindung des menschlichen Lebens in die durch Wandel und Werden bestimmte Welt und um eine Zurückweisung aller überzogenen Sicherheits- und Heilserwartungen bemüht. Hierin steckt dann auch das Potential, dass der Mensch im Sinne Nietzsches nicht bloß die »Krankheit dieser Erde«(68) sein muss, sondern seinen »Sinn in dieser Erde«(69) und die »Treue zur Erde« zu entdecken und zu leben vermag.(70) Auf einer solchen Grundlage kann letztlich auch die Forderung plausibel gemacht werden, dass die Naturwissenschaften und Technologien nicht einfach einer fragwürdigen Eigendynamik überlassen werden können, sondern einer Einbettung in größere Zusammenhänge und auch einer Reglementierung hinsichtlich gegenwärtiger und künftiger Lebens- und Gesellschaftsentwürfe bedürfen:

»Wir fordern: das Wohl der Menschheit muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahrheit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse Grenzen zieht).«(71)

Anmerkungen

  1. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente [= NF] 1884–1885, 35(51); KSA, Bd. 11, 536.
  2. Die Aufklärung, die der Französischen Revolution voranging und die gewöhnlich mit Namen wie Voltaire, Diderot, Lessing und Kant verbunden wird, ist – so betrachtet – bereits die zweite Aufklärung. Die erste Aufklärung kann mit dem Namen des Sokrates und der auf seinen Gedanken aufbauenden Philosophien von Platon, Aristoteles und den Schulen des Hellenismus verknüpft werden. Für die dritte Aufklärung besitzen neben Nietzsche auch Marx, die neuzeitlichen Naturwissenschaften und eine naturwissenschaftsnahe Philosophie sowie die Psychoanalyse Freuds zentrale Bedeutung.
  3. Die fröhliche Wissenschaft [= FW] 339; KSA, Bd. 3, 569.
  4. »Eine monotone, wenn nicht monomanische destruktive Position hält sich, [...], durch alle Schaffensperioden Nietzsches durch.« (Spiekermann 1992, 60).
  5. Nietzsches Umdeutung zum Denker fürs Reich steht in heftigstem Widerspruch zu seinen Aussagen zum Nationalismus und seiner Abneigung gegen jegliches Deutschtum: »Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als ›moderne Menschen‹«, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des ›historischen Sinns‹ zwiefach falsch und unanständig anmuthet.« (FW 377; KSA, Bd. 3, 630f.).
  6. Camus, Der Mensch in der Revolte, 64.
  7. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [= GT] 1; KSA, Bd. 1, 25.
  8. NF 1885–1887, 2(87); KSA, Bd. 12, 104f.
  9. Cf. NF 1884–1885, 26(328); KSA, Bd. 11, 236.
  10. FW 109; KSA, Bd. 3, 468.
  11. NF 1887–1889, 14(187); KSA, Bd. 13, 374). Hingewiesen sei auf den Widerspruch zwischen den ontologischen Aussagen Nietzsches zum alleinigen Werdenscharakter der Welt und seiner Destruktion des traditionellen Wahrheitsverständnisses. Eine Auflösung dieses Widerspruches ist wohl nicht im Sinne einer eindeutig zu systematisierenden Antwort, sondern nur durch ein Eintauchen in das bestimmende Moment des Schillerns innerhalb von Nietzsches Philosophie möglich.
  12. Cf. NF 1887–1889, 11(72); KSA, Bd. 13, 34f.
  13. Cf. Also sprach Zarathustra [= Z] III, Von alten und neuen Tafeln 8; KSA, Bd. 4, 252.
  14. NF 1869–1874, 19(210); KSA, Bd. 7, 484.
  15. Menschliches, Allzumenschliches [= MA] II 9; KSA, Bd. 2, 384.
  16. Jenseits von Gut und Böse [= JGB] 22; KSA, Bd. 5, 37.
  17. Cf. NF 1884–1885, 25(371); KSA, Bd. 11, 108f.
  18. NF 1885–1887, 9(91); KSA, Bd. 12, 383.
  19. Cf. NF 1887–1889, 14(81); KSA, Bd. 13, 260f.
  20. NF 1885–1887, 9(97); KSA, Bd. 12, 391.
  21. »Der Satz [der Satz vom Widerspruch; A. W.] enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll.« (NF 1885–1887, 9(97); KSA, Bd. 12, 389).
  22. Mathematik ist für Nietzsche vor allem angewandte Mathematik, Mathematik als System synthetisch-apriorischer Urteile im Sinne Kants gibt es für ihn eigentlich nicht. Mathematik im letzteren Sinne würde auch seiner Grundauffassung widersprechen, wonach es grundsätzlich keine Geistesregung gibt, die völlig frei wäre von einer Ausrichtung auf die Welt und dem Wunsch auf diese einzuwirken. Die Propagandisten der »unbefleckten Erkenntnis« sind für ihn nichts als Heuchler (cf. Z II, Von der unbefleckten Erkenntnis; KSA, Bd. 4, 156ff.).
  23. NF 1885–1887, 7(56); KSA, Bd. 12, 314.
  24. Klassischen Ausdruck erlangt die Korrespondenztheorie der Wahrheit bekanntermaßen bei Thomas von Aquin: »Veritas est adaequatio rei et intellectus.« Er greift dabei auf Aristoteles zurück (cf. De interpretatione I 16a, 6ff.).
  25. Cf. z. B. Kant, Prolegomena, A 113; Werkausgabe, Bd. V, 189. Zum Verhältnis der, durch die Grundsätze des Verstandes gestifteten, transzendentalen Wahrheit zu der, durch die Sinne gestifteten, empirischen Wahrheit bei Kant cf. Fleischer 1984, 103ff.
  26. »Man findet in den Dingen nichts wieder als was man nicht selbst hineingesteckt hat […].« (NF 1885–1887, 2(174); KSA, Bd. 12, 153).
  27. Nietzsches Destruktion der Wahrheit wird immer wieder der Selbstwidersprüchlichkeit bezichtigt. Wenn alles falsch ist, dann ist auch der Satz, der sagt, dass alles falsch ist, falsch, und der, der einen solchen Satz äußert, kann keinen Anspruch auf Wahrheit haben und so fort (cf. Roth 1992).
  28. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne [= WL] 1; KSA, Bd. 1, 884.
  29. Die Objekte wie die Kontinuität der erkennenden Subjekte sind gesetzte Größen, die sich im allgemeinen Werden der Welt auflösen und so ihre Verbindlichkeit verlieren. In dem frühen Text Über Wahrheit und Lüge nimmt Nietzsche sie noch als gegeben.
  30. Cf. JGB 34; KSA, Bd. 5, 52ff.
  31. Cf. NF 1880–1882, 11(153); KSA, Bd. 9, 500.
  32. Cf. NF 1880–1882, 11(325); KSA, Bd. 9, 567f.; NF 1880–1882, 12(32); KSA, Bd. 9, 581.
  33. NF 1884–1885, 34(352); KSA, Bd. 11, 506.
  34. NF 1887–1889, 14(152); KSA, Bd. 13, 333.
  35. Durch die Erkenntnisse der modernen Physik ist das Wirklichkeitsverständnis der heutigen Naturwissenschaftler zweifellos wesentlich verändert worden. So sagt beispielsweise Werner Heisenberg: »Wirklichkeit, von der wir sprechen können, [ist] nie die Wirklichkeit ›an sich‹, sondern eine gewußte Wirklichkeit oder sogar in vielen Fällen eine von uns gestaltete Wirklichkeit.« (Heisenberg, Gesammelte Werke, Bd. I, 236). Dennoch spielen solche Überlegungen für den normal scientist nach wie vor kaum eine Rolle. Außerdem muss gesagt werden, dass auch in der modernen Physik die Wahrheit bzw. Richtigkeit ihrer Erkenntnisse auf dem optimistischen Glauben an die Objektivität der wissenschaftlichen Methodik beruht (cf. Spiekermann 1992, 77ff.).
  36. NF 1885–1887, 7(3); KSA, Bd. 12, 256f.
  37. NF 1885–1887, 7(60); KSA, Bd. 12, 315.
  38. Diese Absage an die Verabsolutierung einer Wahrheit konterkariert Nietzsche in seiner Spätphilosophie allerdings durch seine durchaus ontologisch akzentuierten Thesen vom Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Cf. z. B.: »Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem!« (NF 1884–1885, 38(12); KSA, Bd. 11, 611). Zur ausführlichen Interpretation dieser beiden Ontologeme cf. Abel 1984.
  39. Z III, Vom Geist der Schwere 2; KSA, Bd. 4, 241ff.
  40. Cf. Genealogie der Moral [= GM] 12; KSA, Bd. 5, 363ff.
  41. NF 1880–1882, 11(229); KSA, Bd. 9, 529.
  42. FW, Vorrede zur 2. Ausg.; KSA, Bd. 3, 345ff.
  43. NF 1885–1887, 7(49); KSA, Bd. 12, 311.
  44. GT 15; KSA, Bd. 1, 97ff.
  45. FW 107; KSA, Bd. 3, 464.
  46. Der Antichrist [= AC] 55; KSA, Bd. 6, 239.
  47. »Unsre Naturwissenschaft geht auf den Untergang, im Ziele der Erkenntniß, hin.« (NF 1869–1874, 19(198); KSA, Bd. 7, 480).
  48. Cf. GT, Versuch einer Selbstkritik 2; KSA, Bd. 1, 11ff.
  49. Cf. JGB 257; KSA, Bd. 5, 205ff.
  50. JGB 14; KSA; Bd. 5, 28.
  51. Cf. JGB 204; KSA, Bd. 5, 129ff.
  52. Nietzsches Kritik am Positivismus und den empirischen Wissenschaften hält ihn allerdings nicht davon ab, naturwissenschaftliche Ergebnisse zur Fundierung seiner philosophischen Gedanken zu verwenden.
  53. MA I 251; KSA, Bd. 2, 209.
  54. Morgenröte [= M] 117; KSA, Bd. 3, 110.
  55. NF 1880–1882, 6(429); KSA, Bd. 9, 308.
  56. WL 1; KSA, Bd. 1, 883.
  57. Nietzsche spricht diese These zwar des Öfteren in dieser Absolutheit aus, erkennt aber auch an vielen Stellen ihre Problematik. So z. B. NF 1884-1885, 25(116); KSA, Bd. 11, 44: »Die seiende Welt ist eine Erdichtung – es giebt nur eine werdende Welt. – So könnte es sein! Aber setzt die Erdichtung nicht den Dichter als seiend voraus? [...] Es gibt Fühlen und Denken: wie ist es aber in der Welt des Werdens nur möglich?« Nietzsches These vom absoluten Werden zeigt sich insofern als der Gedanke einer experimentellen Philosophie, die sich um das Ausmessen des Denkmöglichen und Ertragbaren bemüht.
  58. »die Annahme des Seienden ist nöthig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes.« (NF 1885–1887, 9(89); KSA, Bd. 12, 382).
  59. So finden sich bei Spiekermann (1992) und J. Kirchhoff (1977) z. T. zu starke Annäherungen von Nietzsches Erkenntniskritik an die Quantenphysik, die letztlich beiden Sphären nicht gerecht werden.
  60. »Wenn z. B. ein Physiker die Wahrscheinlichkeit ausrechnet oder mißt, mit der ein Atom ein einlaufendes Elektron innerhalb eines gegebenen festen Winkels streut, so behandelt er ein Ereignis mit der Vorstellung der Verursachung eines Ereignisses (Streuen des Elektrons in einem gegebenen Winkel), das mit der gegebenen Wahrscheinlichkeit durch das Feld des Atoms bewirkt wird. Er bestimmt also die Tendenz eines gegebenen Ereignisses (des ›Stoßes‹ der zwei Entitäten), ein anderes Ereignis zu bewirken (die Streuung).« (Bunge 1984, 146).
  61. NF 1880–1882, 11(149); KSA, Bd. 9, 499.
  62. Z II, Von der Selbst-Überwindung; KSA, Bd. 4, 146ff.
  63. Cf. Dionysos-Dithyramben, Nur Narr! Nur Dichter!; KSA, Bd. 6, 377ff. Zur Deutung in der angesprochenen Richtung cf. Fleischer 1984, 178ff.; dies. 1993, 239ff.
  64. Nietzsches eigener Gebrauch von naturwissenschaftlichen Ergebnissen (beispielsweise zur Fundierung seiner Wiederkunfts-These) verweist auch darauf, dass er sie nicht für gänzlich untauglich hielt. Außerdem ist die Wissenschaft für ihn ja insbesondere auf Existenzerhalt und Bemächtigung der Welt ausgerichtet: Der Wille zur Macht ist dialektisch strukturiert, er kann dem Leben dienen oder als Wille zur Wahrheit verabsolutiert es vernichten!.
  65. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass sowohl die Philosophie Heraklits als auch die Philosophie des Parmenides in sich ein zwischen der absoluten Werdens- bzw. Seins-These vermittelndes Moment enthält. Zu Heraklit heißt es bei Nietzsche zutreffend: »Zwei ungeheure Betrachtungsarten haben seinen Blick gefesselt: die ewige Bewegung, die Negation jedes Dauerns u. Verharrens in der Welt und die innere, einheitliche Gesetzmäßigkeit jener Bewegung.« (Die vorplatonischen Philosophen, Vorlesungsaufzeichnungen, KGA 2/4, 267).
  66. ibid., 268.
  67. ibid., 269.
  68. Z II, Von großen Ereignissen; KSA, Bd. 4, 168.
  69. Z I, Von den Hinterweltlern; KSA, Bd. 4, 38.
  70. »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.« (Z I, Zarathustras Vorrede 3; KSA, Bd. 4, 15).
  71. NF 1875–1879, 23(82); KSA, Bd. 8, 432f.

Literatur

Der Autor

Dr. Andreas Woyke, Jg. 1966, Studium der Chemie, Physik, Erziehungswissenschaft und Philosophie an der Universität Siegen, 1. und 2. Staatsexamen, 2004 Promotion, gegenwärtig Lehrbeauftragter am Philosophischen Institut der TU Darmstadt, DFG-Projekt »Philosophische Implikationen von Nanoforschung und Nanotechnologie«. Forschungsinteressen: Naturphilosophie, Wissenschafts- und Technikphilosophie, Ideen- und Begriffsgeschichte, Philosophie der Antike, Theorien der Moderne, Religionsphilosophie und Religionskritik.

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ISSN 1437-3777